Achter Oktober 2015, ein Donnerstagabend in Hamburg. Wir betreten Kampnagel. Heute erwartet uns die Premiere der Performance „Chaos”. Wir haben nicht die geringste Ahnung, was uns geboten wird.
Es wird gebeten, Jacken und Taschen abzugeben; dafür ist sogar die Garderobe umsonst. Gespannte Erwartung vor der Bühne K4. Außer uns und ein paar Kampnagel-Ansprechpartnerinnen ist niemand da. Wir sind aber auch recht früh, hoffentlich kommt noch jemand.
Kurz vor Beginn ist der Vorflur dann doch ganz gut gefüllt, und endlich ist Einlass.
Ein großer Raum. Ein sehr großer Raum sogar. Flacher Boden, keine Sitzplätze. An ein paar Stellen sind niedrige Holzkonstruktionen am Boden, willkürlich mit merkwürdig geschnittenen, dünnen Steppdecken belegt. Am Rand ein paar Stühle mit Geräten darauf, doch dazu später mehr. Hinten links das Regiepult, ansonsten ist der Raum leer.
Beim Betreten werden wir gebeten, uns frei im Raum zu bewegen. Ansonsten wissen wir nichts. Ungefähr 60 bis 65 Besucher befinden sich im Raum. (Darunter auch die Intendantin des Hauses, doch das sei nur am Rande bemerkt.)
Alle Zuschauer haben sich eher zufällig im Raum verteilt, man wartet gespannt auf einen Anfang. Oder hat es schon begonnen? Was hat es mit den fünf jungen Leuten auf sich, die sich barfüßig durch den Raum bewegen? Alle haben grüne Gymnastikhosen an, obenherum eher Straßenlook. Sie scheinen also zusammenzugehören, bewegen sich durch die Zuschauer, nachdem alle ihren Platz gefunden haben. Oder haben sie sich schon die ganze Zeit über bewegt? Sie winden sich durch die Menschenmenge, mal schnell, mal langsam, mal rückwärts, mal in Tanzschritten, ohne jemanden zu berühren. Es ist still, kein Wort wird gesprochen. Sie nutzen Freiräume, versammeln sich und trennen sich wieder. Irgendwie bekommt man Lust, auch ein wenig herumzugehen.
Jonas Woltemate überlässt die Entscheidung dem Zuschauer. Gehen oder bleiben? Sollen wir dem Impuls nachgeben? Am liebsten möchte man mitlaufen, aber das macht man doch nicht, oder doch? Wird es vielleicht sogar erwartet? Ich bewege mich forsch durch den Raum. Ein bisschen unsicher noch, aber der eine oder andere tut es bereits auch.
Tatsächlich beginnt eine langsame Verschiebung unter den Zuschauern, und plötzlich ist klar, dass wir Besucher irgendwie Teil des Ganzen sind – ein Mittelding aus Mitspieler und Kulisse.
Alles ist zufällig, keine Bewegung ist geplant, die Darsteller reagieren auf die Veränderungen im Publikum, die Zuschauer reagieren wiederum auf die Darsteller. Es gibt keine Konstanten, nur Variablen. Das Chaos ist greif- und spürbar.
Das undurchsichtige Netz, das die Darsteller spinnen, erscheint zufällig.
Nach einiger Zeit gibt es eine Zäsur, die Darsteller stellen sich an den Rand und ziehen sich Hosen und Schuhe an, werden optisch ein Teil der Masse, dann beginnen sie wieder mit ihren Durchläufen. Zwischendurch ertönt immer mal wieder ohne ersichtlichen Grund ein rauschendes Geräusch, das anschwillt und plötzlich abbricht.
An einer Seite des Raumes bildet sich irgendwann plötzlich eine Wolke. Die Geräte auf den Stühlen sind also Nebelmaschinen.
Das Chaos, es entsteht automatisch. Oder hat alles einen Sinn? Eine nicht greifbare, hörere Ordnung, die wir nur nicht verstehen? Wann sind die Bewegungsabläufe der Darsteller einstudiert, wann improvisiert? Warum zieht eine der Darstellerinnen eine Hose über ihre Trainingssachen und Schuhe an, während der andere nur einen Pullover überstreift?
Ganz allmählich ändert sich die Darbietung, es kommen auch eingestreute Lichteffekte hinzu. Langsam steigert sich das Tempo, es gibt Techno-artige Musik und zuckende Scheinwerfer.
Dann ist es wieder ruhig, die Darsteller fangen an zu sprechen, auf deutsch und englisch. Jeder erzählt eine Geschichte, die er oder sie einmal erlebt hat. Einzelne Zuschauer werden direkt angesprochen, später sprechen die Darsteller vor sich hin, wiederholen ihre Geschichte wie ein Mantra, wobei einzelne Elemente immer wieder ausgetauscht und verändert werden. Die Zuschauer werden durch Gesten aufgefordert, sich auf die Holzkulissen und die Decken zu setzen. Noch während alle sich einen Platz suchen, werden die Sitzgelegenheiten in das Spiel einbezogen, so dass nach und nach jeder wieder aufstehen muss.
Die Holzteile werden in die Mitte des Raumes geschoben, aufgerichtet und mit den Steppdecken belegt, gleichzeitig wird ein Gurt herumgelegt und alles festgezurrt.
Am Ende wird alles zusammengeführt und festgezurrt. Wir sind Zeugen der Implosion eines Universums. Alles kann wieder von vorn beginnen. Werden wir die Chance nutzen?
Nachdem dies erledigt ist, verlassen die Darsteller den Raum. Ein Projektor wirft ein Bild aus einem Nebenzimmer an eine Wand. Zwei der Darsteller sitzen dort an eine Heizung gelehnt und unterhalten sich auf englisch über gesellschaftspolitische Themen, wobei der Dialog zwar irgendwie aufeinander aufbaut, aber es eher den Anschein hat, als ob sprunghaft einfach nur Statements ausgetauscht werden.
Als die Projektion zu Ende ist, kommen die Darsteller wieder herein. Hintereinander, ungewohnt geordnet, in Reihe aufgestellt, Verbeugung, Applaus. Das war’s.
Fazit: In einer Zeit, in der es schwierig ist, den Blick der Menschen von ihrem Smartphone abzulenken, setzt Jonas Woltemate auf die direkte Konfrontation. Man spürt den Wind der an sich vorbeihuschenden Darsteller, könnte sie anfassen oder ihren Schweiß abbekommen. Sie interagieren nicht nur miteinander, sondern auch permanent mit dem Publikum. Wach und real werden wir alle Teil dieser Performance, fühlen uns geborgen im inszenierten Chaos und einer durch Zufall zusammengefundenden, aber momentanen, realen Gemeinschaft. Ein rauschender Beifall belohnt das Team, Darsteller und Regie. Ein bewegter und bewegender Theaterabend, der noch lange nachklingt!
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Ali & Jan